Bundesstaaten Indiens: Orissa

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von  Bernd Basting

Mit dieser Ausgabe setzen wir die Serie von Portraits der Bundesstaaten Indiens fort. Sie beabsichtigen, ihren Teil dazu beizutragen, dem auffallenden Mangel an deutschsprachigen Informationen über die ethnisch, sprachlich, kulturell, politisch und ökonomisch sehr differenzierten indischen Regionen und Bundesstaaten zu begegnen. Indien wird hierzulande zumeist - in hartnäckiger Ignorierung seiner Vielfalt -, als monolithischer Einheitsstaat dargestellt. Bereits erschienen sind die Länderportraits Andhra Pradesh, Tamil Nadu, Kerala, Assam, Bihar, Karnataka und Goa in den Ausgaben 2/97, 3/97, 6/97, 1-2/98, 4/98, 5/98 und 6/98 von "Südasien".

Der pyramidenhaft riesige Tempelwagen bewegt sich, von Menschenhand getragen, ächzend und schwankend seinem Ziel zu: Gundicha Mandir, das Sommerdomizil der mächtigen Götter Jagannath, Balbhadra und Subhadra. Man hat sie herausgenommen für sieben Tage, aus ihrer eigentlichen Heimstatt, dem Tempel Sri Jagannath, der "weißen Pagode", die 800 Jahre alt und weiß getüncht, weithin sichtbar ist und in deren 65 Meter hoch aufragendem Shikara sich die tiefe Religiosität der hiesigen Hindus bündelt. Dann wird man sie wieder nach dort zurückbringen. Ein unübersehbares Meer von Pilgern begleitet die Prozession der verehrten Trinität, zwei Kilometer lang, Gebete, magische Mantras murmelnd oder laut akklamierend, still-verzückt oder lärmend-expressiv aus der Kehle dringend, und mit ekstatischem Fanatismus werfen sich einige gar vor die riesigen Räder des heiligen Holzwagens, von Passanten nur knapp vor der Zermalmung bewahrt werdend.

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Wir sind im mittleren Osten Indiens, in Orissa, in der heiligen Stadt Puri, Ende Juni, und es ist "Ratha Yatra", das große hinduistische Wagenfest.

Der Gott Jagannath steht im Mittelpunkt der religiösen Verehrung der Oriya, der Bewohner Orissas, sofern sie Hindus sind. Er ist der Herr des Universums, eine Erscheinungsform Krishnas, der wiederum eine Avatara Vishnus darstellt. Sein mystisches, etwas unheimlich wirkendes halsloses Bildnis wird aus dem Holz des Daru-Baumes geschnitzt, und vielleicht ist sein Kult aus einem antiken Baum-Kult der Region hervorgegangen.

Doch es gibt auch eine alte Legende, die man sich hier erzählt: Jagannath erschien König Indrodyumna im Traum und befahl ihm, einen Tempel zu bauen. Der Herrscher ließ sodann die Kult-Plastiken für das Heiligtum aus einem einzigen Holzblock schnitzen, der vom Meer angewemmt worden und ihm im Traum erschienen war.

Orissa ist ein Land, welches eine tiefe Hindu-Religiosität ausatmet. Und es ist landschaftlich und kulturell von großem Reiz.

Der 155.000 Quadratkilometer umfassende Bundesstaat wird im Osten vom Golf von Bengalen begrenzt und auf der Landseite umsäumen ihn die indischen Staaten Westbengalen im Nordosten, Bihar im Norden, Madhya Pradesh im Westen und Andhra Pradesh im Südwesten. Seine Topographie gliedert sich in einen Küstenstreifen mit satt-grünem Hinterland aus Reisfeldern, Palmyra- und Kokospalmen und in von Flußläufen massiv segmentierte Bergländer der Ost-Ghats und des Dekkan-Plateaus.

Die malerische Küstenregion gemahnt an Landschaften auf Sri Lanka oder Bali. Sie wird abgeschirmt durch die Gebirgszüge, welche jedoch durch das Tal des von West nach Ost fließenden großen Stromes Mahanadi - des Hauptflußgewässers Orissas - eine gute Verbindung mit dem Hinterland herstellen.

Die etwa 35 Millionen Einwohner sind stark konzentriert auf die landwirtschaftlich intensiv kultivierten Niederungen und Flußtäler, so daß die schwer zugänglichen Bergregionen sich bis heute als Rückzugsgebiet ethnischer Minderheiten erhalten konnten und eines der bedeutendsten Siedlungsgebiete der indischen tribalen Ureinwohner, der 'Adivasi' ("erste Siedler") bilden. Rund 65 verschiedene Ethnien wie die Juang, Dongria Kondh, Kutia Kondh, Paudi Bhuiyan oder Bondo leben mitunter noch auf eine relativ traditionelle Art. Sie besitzen eigene Sprachen und Dialekte, Wirtschaftsweisen, naturreligiöse Kulte und Rituale. Noch gibt es unter ihnen Jäger- und Sammlerkulturen; aber im Zuge der Modernisierung der indischen Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Infiltration westlicher Einflüsse durch den Globalisierungsprozeß sehen sich auch die Traditionen und Alltagswelten der Adivasi Orissas sukzessiven, spürbaren Veränderungen ausgesetzt.

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Die Vielfalt der Völker Orissas ist Spiegel der Verschmelzung unterschiedlichster kultureller Strömungen, die das Land in den Phasen seiner uralten Geschichte erfahren hat.

Die dokumentierte historische Vita Orissas beginnt mit dem Jahr 262 v.Chr., als das damalige 'Kalinga' dem Kaiser Ashoka bei Bhubaneswar in der Schlacht unterlag. Für das gesamte damalige Indien sollte dies ein besonderes Ereignis mit großer Wirkung gewesen sein. Denn beim Anblick der blutüberströmten Leichen schwor der Maurya-König reuig der Gewalt für immer ab und konvertierte zum Buddhismus. Den rief er bald darauf zur Staatsreligion Indiens aus, was er einige hundert Jahre, in Orissa beinahe 1.000 Jahre, bleiben sollte.

Nach Erosion der Maurya-Macht erlangte das Land kurzfristig seine Selbständigkeit wieder und avancierte unter dem politisch wie militärisch ambitionierten Strategen König Kharavela zur führenden Macht im Osten, bis eine erneute Fragmentarisierung des Reiches in kleine Fürstentümer den Gupta-Herrscher Samudragupta im 4. Jahrhundert zur Eroberung der so paralysierten Region veranlaßte.

Es folgten die Herrscherhäuser der Kesari (8.-12. Jhd.), die mittels engagierter Brahmanen wieder den Hinduismus durchsetzten und den Jagannath-Kult etablierten, und der Ganga (12.-15. Jhd.), die für den Sonnengott Surya den Tempel in Konarak bauen ließen.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gerät das Land unter die Knute islamischer Okkupation: Von Norden her fielen die Truppen des Nawabs von Bengalen über Orissa her, von Süden die muslimischen Eroberer aus Golkonda. Die Moguln ließen fortan im Namen Allahs die Provinz durch die Khurda-Dynastie dominieren, deren Repräsentanten sich aber dann eigensinnig von Delhi zu separieren begannen.

Die profitheischenden Aktivitäten der britischen Ostindien-Kompanie im zufälligen Verein mit dem Machtzugewinn der Marathen aus dem Südwesten Indiens generierten einen Verfall der Mogul-Herrschaft, der im 18. Jahrhundert auch Orissa tangierte: 1751 nahmen die Marathen an der Ostküste das Zepter in die Hand, mußten es indes schon 52 Jahre später an die Briten übergeben. Die britische Ostindien-Kompanie unterstellte die Küstenprovinz ihrer direkten Regentschaft, während sie sich im Hinterland durch ihnen loyale Rajas vertreten ließ.

Doch die Bevölkerung Orissas erwies sich als mutig und freiheitsliebend: In Gestalt der sog. "Oriya-Bewegung", die sich 1817 erstmals gegen die britischen Unterdrücker erhob, wurde eine wichtige Saat gelegt für einen gesamtindischen nationalen und anti-kolonialen Widerstand gegen die Fremdherrschaft; nach 1885 erblühte sie in der Formierung des 'Congress-Movement' unter Nehru und Gandhi, die den indischen Freiheitskampf anführten, der schließlich erfolgreich in die nationale Unabhängigkeit und der Konstituierung der souveränen Indischen Union mündete.

Während der Kolonialzeit gehörte Orissa zuerst zur 'Presidency of Bengal', ehe es 1911 mit Bihar zwangsvereinigt wurde, um 1936 den Status einer autonomen Provinz zu erhalten, aus der sich nach der Unabhängigkeit der Bundesstaat profilierte. Ein geschichtsträchtiges, historiebewegtes Land also.

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Die Gegenwart indessen erscheint prosaischer: Bis vor kurzem noch galt Orissa als eine der rückständigsten Regionen Indiens, in dem überlieferte Bräuche und Denkweisen, mangelhafte Infrastruktur und ein fehlender Fortschrittswille Entwicklung verhindern. Die Wirtschaft des Bundeslandes ist nun einem immer spürbarer werdenden Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne ausgesetzt. Es wird markiert durch den noch allerorten präsenten Wasserbüffel-gezogenen Pflug der Naßreisbauern in den Küstenebenen einerseits und der inzwischen computergesteuerten Schwerindustrie von Rourkela andererseits.

Überhaupt Rourkela: An dieser Industrie- und Dienstleistungsstadt läßt sich die Entwicklung von der industriellen Revolution zur computerisierten postmodernen Gesellschaft und die dadurch erzeugten radikalen Mutationen lange gültiger Bewußtseinswelten, praktizierter menschlicher Lebensweisen und Alltagskulturen in Indien augenfällig dokumentieren. Das Stahlwerk Rourkela ist Ende der fünfziger Jahre mit Hilfe von Krediten und Ingenieuren vornehmlich aus Deutschland in den Dschungel gesetzt worden. In der Nähe hatte man üppige Erzvorkommen entdeckt, und der damalige Premierminister Nehru wollte die arme Region mit dem indienweit höchsten Anteil an Ureinwohnern entwickeln. Das zu jener Zeit fortschrittlichste Stahlwerk Asiens wurde als "Tempel eines neuen Indien" gefeiert. Fortan produzierte man hier Bleche für den Automobil- und Schiffbau, rostfreien Stahl für Eisenbahngleise und Röhren für den Gas-, Öl- und Wassertransport. 20.000 Menschen fanden Arbeit; vormals teure Importe wurden durch Eigenproduktion ersetzt und die knappen Devisen Indiens geschont. Die in der Gegend zahlreich lebenden Adivasi zwang man zugunsten des Baus der Industrieanlagen, ihr angestammtes Siedlungsgebiet zu verlassen, die Heimat und den mystischen Ort ihrer Ahnen und Götter - ihre Häuser mußten den Schloten des Hüttenwerks weichen. Wenn sie denn Arbeit am Standort finden wollten, hatten sie einen Sprung aus der Steinzeit ins moderne Industriezeitalter zu wagen. So war es kein Wunder, daß nur Wenige einen dauerhaften Arbeitsplatz erhielten, da die meisten nicht lesen und schreiben und sich an vorstrukturierte Tagesabläufe und feste Arbeitszeiten gewöhnen konnten. Viele erlagen den Verlockungen der offerierten Konsumgüter, die sie vorher niemals gesehen hatten, nahmen Kredite auf, die sie nicht zurückzahlen konnten, verloren Besitz und Ersparnisse und wurden einem von außen induzierten massiven Verarmungsprozeß ausgesetzt. Am Ende stand nicht selten - ähnlich wie ihrer Kultur entfremdeten Indianern Nordamerikas oder den Aborigines in Australien - der Alkohol, als Flucht aus einer Wirklichkeit, mit der man nicht mehr zurechtkommt.

Das damals offiziell von der Regierung propagierte Ziel, die soziale Situation der Ureinwohner Orissas zu verbessern, war damit ad absurdum geführt. Zwar wurde das Stahlwerk in den Siebziger Jahren durch ein Quotengesetz dazu gedrängt, ein Viertel aller Arbeitsplätze mit Adivasi zu besetzen, doch diese Zahl ist bislang nur bei den ungelernten Arbeitskräften, also den niederen Einkommensstufen, erreicht; bei den Fach- und Vorarbeitern bzw. höheren Angestellten beträgt der Anteil der Stammesbevölkerung aktuell nur vier Prozent, also sechsmal niedriger als vorgeschrieben. Und je mehr sich Rourkela auf computergesteuerte Fertigungstechnologien umstellt, finden noch immer weniger Adivasi und Angehörige niederer Kasten bzw. Dalits dort Lohn und Brot.

Heute ist Orissas riesiges Hüttenwerk (nach Angaben von M. Fritz und M. Kämpchen) das bedeutendste von fünf Stahlwerken der 'Steel Authority of India' (SAIL) und mit sieben Milliarden Mark Umsatz per annum das viertstärkste Unternehmen Indiens, mit einem jährlichen Ausstoß von 1,5 Millionen Tonnen Stahl sogar einer der größten und expandierendsten Stahlkonzerne der Welt.

Aber den Menschen vor Ort, insbesondere denjenigen, die zu den Ärmsten gehören, hat diese Art moderner wirtschaftlicher Entwicklung bis dato wenig gebracht. Sie gehören nicht zu den Profiteuren des Fortschritts, sondern bleiben, ihrer kulturellen Wurzeln entledigt, als Verlierer zurück.

Neben der Stahlproduktion, spielt in Orissa der Tourismus als Wirtschaftsfaktor eine immer relevantere Rolle, was angesichts seiner landschaftlichen Attraktivität und der Großartigkeit der sehr spezifischen Tempelarchitektur nicht verwundert: Bhubaneswar, mit dem Ligaraja-Tempel - einem der Höhepunkte nordindischer 'Nagara' - Tempelbaukunst - und zahllosen anderen faszinierenden Monumenten hindu-religiöser Architektur, die mit ihren pyramidenförmigen oder halbzylindrischen Tempeltürmen - den "deuls" - eine eindrückliche bauhistorische Besonderheit darstellen; die über 2.000 Jahre alten Jain-Höhlenklöster von Udayagiri und Khandagiri; die berühmten buddhistischen Felsedikte des Kaisers Ashoka in Dhauli; der romantische Strand und der heilige Sri Jagannath-Tempel in Puri; der großartig-monumentale Sonnentempel von Konarak mit seinen steinernen Wagenrädern und der exquisiten Figurenornamentik; oder die Lagune des mit hübschen Inseln übersäten Chilka-Sees und die malerische Tropenlandschaft der Küstenregion - alles beachtliche Attraktionen des Reiselandes Orissa, die bis vor wenigen Jahren von der für Tourismus zuständigen Landesregierung noch viel zu zurückhaltend beworben worden sind.

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Da von den Tempeln die Zivilisation Orissas ihren Ausgang nahm, präsentieren sich auch die Ausdrucksformen der Oriya-Kultur - die in Indien eine sehr eigenwillig-charakteristische darstellt - häufig als Manifestationen sakral-ritueller, mystischer Kunst. Die Heiligtümer des Landes bieten als Blüte der Tempel-Steinmetzkunst künstlerisch hochstehende erotische Plastiken und Reliefarbeiten, die beeinflußt sind von den religiösen Vorstellungen des Tantrismus, nach denen der körperliche Akt zwischen Mann und Frau gleichgesetzt wird mit der Vereinigung der irdischen, menschlichen Existenz mit dem Göttlichen, dem Absoluten. Eine solcherart transzendente Überhöhung von Eros und Sexualität hat - in offenkundigem Widerspruch zur Prüderie der zeitgenössischen indischen Gesellschaft - im indischen Kulturraum eine gewisse spirituelle und künstlerische Tradition, wie auch die Liebesliteratur des Kama Sutra oder die erotischen Figuren-Skulpturen und Reliefs an den Tempeln von Kajuraho bezeugen.

Der klassische Oriya-Tanz, der "Odissi", ist ebenfalls religiös geprägt und beinhaltet erotische Tanzfiguren. Ursprünglich wurde er in den 'nata mandirs', den Tanzsälen der Tempel, aufgeführt, von tempeleigenen Ensembles, den "maharis".

Nachdem die muslimischen Herrscher die Ausübung des Odissi, den sie als unsittlich, sündhaft und mit dem Koran unvereinbar ansahen, unterdrückt hatten, und er so für längere Zeit in Vergessenheit geriet, erfährt diese interessante und hochästhetisch-ausdrucksstarke Tanzkunst heute erfreulicherweise wieder eine vielbeachtete Renaissance.

All diese touristisch interessanten kulturellen Erscheinungsformen zeugen von einer bewegten und eigenständig verlaufenen Vergangenheit Orissas.

 

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Und wie sehen seine wirtschaftlichen, sozialen und politischen Realitäten der Gegenwart, an der Schwelle zum zweiten Jahrtausend, aus? Derzeit firmieren acht Distrikte des Landes unter dem von der Zentralregierung vergebenen Status "rückständige Gebiete". Deshalb werden ihnen von Delhi Steuerkonzessionen eingeräumt.

63 Prozent der Bevölkerung sind im Landwirtschaftssektor beschäftigt; mehrheitlich erreicht der Ertrag ihrer Arbeitskraft aber gerade einmal Subsistenzniveau.

Der Urbanisierungsgrad - ein bewährt aussagestarker Indikator für den ökonomischen Entwicklungsgrad eines Landes - liegt mit 13,4 Prozent am unteren Ende der Bundesstaaten-Skala Indiens (zum Vergleich: Maharashtra: 38,7; Gujarat: 35; Tamil Nadu: 34). Die Kapitale Bhubaneswar ist eine noch immer recht provinziell anmutende Mittelstadt. Metropolitane Wachstumspole fehlen gänzlich.

51 Prozent aller Oriya sind des Lesens und Schreibens unmächtig.

Die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung liegt bei niedrigen 62,2 Jahren bei Männern bzw. 61,1 Jahren bei Frauen (zum Vergleich: Kerala: 68,2/73,6; Punjab: 67,6/67,8). Die Kindersterblichkeitsrate ist mit jährlich 103 pro 1000 eine der höchsten in Indien.

Das Pro-Kopf-Einkommen rangiert weit unter dem Unionsdurchschnitt, wobei 48,5 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben müssen.

47 Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. (Datenquellen: siehe statistisches Profil am Ende des Beitrags).

Die Einkommensverteilung gestaltet sich auch in Relation zu anderen Staaten der Union extrem ungerecht: das Gros des erwirtschafteten Landeseinkommens liegt in Händen Weniger.

Vor dem Hintergrund dieser ökonomischen Kennziffern hat die aktuelle Landesregierung unter J.B. Patnaik Leitlinien einer neuen Wirtschaftspolitik entworfen, die in Schlagworten wie "Exportförderung", "Privatisierung" und "ausländische Investitionen" zum Ausdruck kommen. Mit Verve werden sie nun zu realisieren versucht, um das Bundesland aus seiner ökonomischen Randständigkeit und sozialen Marginalisierung herauszuführen und in einen wohlhabenden, modernen Industriestaat zu verwandeln.

Die Voraussetzungen für eine Expansion und Modernisierung im Industriesektor stehen zumindest nicht schlecht, jedenfalls sofern sie naturräumlich-geomorphologischer Art sind: In Orissa finden sich 90 Prozent von Indiens Chromerz- und Nickelreserven, 70 Prozent des Bauxit und 24 Prozent der noch verbliebenen Kohlevorkommen; dazu gibt es ebenfalls hohe Anteile an Graphit, Dolomit, Tone und Quarzite. Kein anderes Land des Subkontinents kann einen solchen Mineralreichtum vorweisen. Gelockt von attraktiven Investitionskonditionen der Landesregierung sprich: Subventionen, staatliche Risiko-Garantien, Steuererleichterungen und umfängliche Investitionsbeihilfen, zieht es deshalb nun immer mehr nationale wie internationale Unternehmen in den kleinen Ostküsten-Staat, um hier neue Stahl- und Aluminiumhütten sowie auf Kohle basierende Energiegewinnungsprojekte zu verwirklichen. Zwar zeigt sich die industrielle Investionsquote nationenweit betrachtet noch immer bei niedrigen 1,57 Prozent (zum Vergleich: Gujarat: 19,55; Maharashtra: 11,21, Tamil Nadu: 10); doch immerhin flossen zwischen 1992 und 1997 Investitionen in Höhe von einer Milliarde Rupien ins Land und die Tendenz ist stark progressiv.

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Leider zeigt sich bei genauerer Betrachtung die Industrialisierungs- und Liberalisierungspolitik der politischen Führung in Bhubaneswar durch einige wesentliche Defizite gekennzeichnet, die dem Land und seinen Menschen eher negative, denn positive Effekte bringen: Der neu erwirtschaftete Wohlstand kommt nicht der Mehrheit der Bevölkerung zugute, sondern fließt in die Taschen einer Handvoll nationaler bzw. ausländischer Wirtschaftsakteure, lokaler Bürokraten und Politiker. Die Investitionen sind vornehmlich kapital- und nicht arbeitsintensiv, so daß neue Arbeitsplätze nur in geringer Zahl entstehen. Die Finanzierung der den Konzernen von der Landesregierung offerierten Investitionsanreize schlägt große Löcher in den bescheidenen Landeshaushalt, die mit der Streichung bzw. Reduzierung von Agrarmittel-Subventionen, dem Verkauf öffentlicher Einrichtungen und der Privatisierung von Grundversorgungsinstitutionen (wie bspw. staatlichen Lebensmittelläden, in denen vorher die ärmeren Bevölkerungsschichten ihren Reis und ihr Gemüse verbilligt kaufen konnten) zu kompensieren gesucht werden.

Die Gewinne aus Industrie und Dienstleistungssektor verbleiben selten im Land, sondern gelangen durch Kapitalflucht in andere indische Bundesstaaten bzw. ins Ausland, wo sie entweder reinvestiert oder zu lukrativen Zinsen auf Banken angelegt werden.

Ähnlich wie in der Region Rourkela, sehen sich auch künftig Menschen aus ihren Traditionen und Lebensgewohnheiten herausgerissen, da in ihren angestammten Siedlungsgebieten Industrieanlagen und "Entwicklungsprojekte" lokalisiert und sie deshalb zwangsumgesiedelt werden. Kavaljit Singh von der 'Public Interest Research Group', Neu-Delhi, schätzt: "Mit Blick auf die Vorschläge für Neuinvestitionen kann prognostiziert werden, daß nicht weniger als 100.000 Menschen in den nächsten Jahren von Umsiedlungen betroffen sein werden."

Der Focus auf den Ausbau des Industriesektors im Mineral-extrahierenden bzw. verarbeitenden Bereich zeitigt darüberhinaus dramatische ökologische Auswirkungen. Nur ein Beispiel dafür sei genannt: Die das globale Klima verändernden Kohlendioxid-Emissionen, die aus Orissas Industrie- und kohlebetriebenen Energiegewinnungsanlagen dringen, werden sich, laut einer jüngsten Projektion des 'Institute for Political Studies', bis zum Jahre 2005 auf jährlich 164 Millionen Tonnen (!) belaufen; diese Quantitäten entsprechen einem Äquivalent von etwa drei Prozent des errechneten Zuwachses der globalen _ anthropogen erzeugten Treibhausgase des kommenden Jahrzehnts.

Vieles deutet somit daraufhin, daß die eingeleitete Modernisierung des traditionell rückständigen Bundesstaates die soziale Situation der Bevölkerungsmehrheit nicht verbessern, sondern eher noch verschlechtern wird, und daß die beschriebenen Umweltwirkungen das kleine Land mittel- bis langfristig in eine ökologische Katastrophe zu treiben drohen.

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Weite Bevölkerungskreise sind entsprechend unzufrieden mit ihren politischen Führungseliten um den 'Congress(I)'-Politiker J.B. Patnaik und verpassten ihnen bei den letzten Lok Sabha-Wahlen im April 1998 einen deutlichen Denkzettel: Der 'Congress(I)', jahrzehntelang die dominierende Partei im Land, gewann von 21 in Orissa zu vergebenden Mandaten für das Unions- Parlament nur noch fünf _ ein Debakel für die jahrzehntelang dominante politische Kraft im Land. Stärkste Partei wurde stattdessen die 'Biju Janata Dal' (BJD) mit neun Sitzen, gefolgt von der hindu-nationalen 'Bharatiya Janata Party' (BJP) mit sieben.

Die BJD stellt eine letztjährige Neugründung von Navin Patnaik dar, eines Sohnes des in Orissa hochverehrten, ausgesprochen populären und im April 1998 verstorbenen Politikers Biju Patnaik. Die J.B. Patnaik-Administration gilt inzwischen bei vielen Wählern als politisch ungeschickt, korrupt und unseriös, nicht zuletzt wegen der Cliquenwirtschaft, die der Chefminister J.B.P. in seiner bisherigen Amtszeit betrieben hat. Der Vorwurf hebt auf die Tatsache ab, daß sowohl seine Ehefrau, sein Schwiegersohn sowie eine erkleckliche Anzahl naher und weiterer Verwandter mit hohen politischen Posten bedacht worden sind. Folgerichtig interpretierte Orissas BJP-Chef Prasanna Mishra das Wahlergebnis so: "Es spiegelt die massenhafte Wut der Menschen hier wider über die erfolglose und korrupte Politik der Patnaik-Regierung."

Aus machtstrategischen Gründen bildeten Navin Patnaik und seine BJD eine Allianz mit der BJP; er war allerdings bemüht, auf den nicht-hindunationalistischen Charakter der neuen Partei hinzuweisen: "Wir sind eine säkulare Partei. Die Bildung eines Bündnisses mit der BJP verfolgt einzig das Ziel, den korrupten Congress(I) von den Sesseln der Macht in unserem Bundesland herunterzustoßen!"

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Welche politischen Akteure auch immer den Bundesstaat in Zukunft regieren werden und welche ökonomischen Eliten das wirtschaftliche Handeln bestimmen - sie alle wären gut beraten, den eingeschlagenen Modernisierungsweg aufzugeben, zugunsten einer sozial massenwirksameren und ökologisch nachhaltigeren Entwicklungsstrategie. Das würde auch die Chancen für ein weiterhin friedliches Zusammenleben der ethnisch und religiös heterogenen Bevölkerung Orissas erhöhen. Bislang hat es zwischen den beinahe 30 Millionen Hindus und den sechs Millionen Muslimen hier noch keine nennenswerten kommunalistischen oder sozial motivierten Konflikte gegeben, wie vielfach anderenorts in der Union. Da es einen inzwischen erwiesenen engen Nexus von kommunalistischer Gewalt und sozio-ökonomischer Marginalisierung gibt, wäre bei einer Zunahme von Verteilungskämpfen, wirtschaftlich-sozialer Degradierung und permanenter existentieller Unsicherheit vermehrt damit zu rechnen. Die gesellschaftliche Integration der Stammesbevölkerungen und die Verbesserung ihrer sozialen, Arbeits- und Lebenssituation muß vorangetrieben werden, will man soziale Konflikte, die sich potentiell mit Gewalt Bahn brechen, dauerhaft vermeiden.

Denn das ehemals sagenhafte Kalinga - die Heimat des Gottes Jagannath - ist zu schön, um in Chaos, Armut und Gewalt zu versinken.

 

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Stand: 09. Februar 1999, © Asienhaus Essen / Asia House Essen
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