Die gesellschaftliche Rolle der christlichen Kirchen in Südkorea

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Von Carsten Wippermann

Das Christentum ist trotz seiner jungen Geschichte in Korea omnipräsent: Allein in Seoul gibt es etwa 30.000 protestantische und katholische Gemeinden. Nicht nur an zentralen Plätzen wie der City Hall oder am Hauptbahnhof, sondern überall in der Stadt verteilen christliche Gemeinden kostenlose Mittag- und Abendessen an Obdachlose und Arme, deren Zahl seit Beginn der Wirtschaftskrise 1997 ständig wächst. In den Gemeinden finden die von heute auf morgen in Arbeitslosigkeit und Armut gestürzten Menschen materielle Versorgung und psychische Betreuung. Es gibt Weiterbildungsprogramme, Bewerbungsschulungen, Stellenbörsen, Tauschmärkte und vieles mehr.

All dies ist nicht das zentrale Arrangement eines religiösen Intendanten und symbolisiert doch die Rolle und Bedeutung des Christentums in Korea: Integration und Avantgarde, Partizipation und Missionierung. Die allgegenwärtige Wirtschaftskrise traf den Staat und die Gesellschaft völlig unvorbereitet. Sie legt gerade deshalb eindrucksvoll frei, was seit etwa vier Jahrzehnten Alltagswirklichkeit ist.

Christentum: Vehikel der Modernisierung

In Europa gilt das Christentum als Auslaufmodell, in Südkorea dagegen als Vehikel für Fortschritt und Motor der Modernisierung. Wer die Moderne nicht verpassen will oder auch nur das Image des modern seins sucht, der wird Mitglied in einer großen christlichen Gemeinde. Vor allem die protestantischen Gemeinden, dies sind in Korea primär Presbyterianer und Methodisten, wetteifern mit modernen Werbe- und Marketingtechniken um neue Mitglieder. Dadurch sind sie für die traditionellen Religionen Koreas, wie den Buddhismus und Schamanismus, oder auch für den Konfuzianismus zur ernsthaften Konkurrenz geworden, durch ihre Techniken und Strategien aber zugleich auch Vorbild.

Durch das Christentum ist ein Markt der Religionen entstanden. Obwohl Korea immer schon ein multireligiöses Land war, waren in den fünfziger Jahren weniger als 30% der Bevölkerung formales Mitglied einer Religionsgemeinschaft; heute sind es bereits über 55%. Während man in Deutschland das Ende der organisierten Religion diagnostiziert und die Ursache auf den Prozeß der Modernisierung und Rationalisierung zurückführt, läßt sich für Südkorea der entgegengesetzte Effekt beobachten: Hier hat mit der Modernisierung ein Prozeß der Organisation der Religionen begonnen.

Katholizismus und Protestantismus gelten in Südkorea nicht als zwei Konfessionen, sondern als zwei eigenständige Religionen. Heute sind knapp 20% aller Südkoreaner Protestanten, 8% Katholiken. Das rasante Wachstum der christlichen Kirchen seit den sechziger Jahren, ihre gegenwärtige Rolle in der Wirtschaftskrise und ihr unterschiedliches Image in der Bevölkerung hängen eng zusammen mit der je anderen politischen Situation, ihrer eigenen unterschiedlichen Position und Strategie während ihrer Gründungsphase. Weitere Faktoren sind die rasante Industrialisierung unter den Bedingungen der Militärdiktaturen (1961-92), die spezifische Organisationsstruktur des Protestantismus sowie das kulturelle Erbe des Schamanismus.

Historische Wurzeln des koreanischen Protestantismus und Katholizismus

Als der Katholizismus 1784 nach Korea kam, regierte die Chosòn-Dynastie, die den Konfuzianismus zur Staatsdoktrin erhoben hatte und eine rigide Politik der politischen und kulturellen Abschottung betrieb. Während der ersten hundert Jahre wurden die Katholiken vom politischen System unterdrückt und blutig verfolgt. Grund war zum einen, daß der Katholizismus als westliche Lehre galt, zum anderen, daß er strikt die Teilnahme am konfuzianischen Ahnenkult verbat. Für die Konfuzianer stellte der Katholizismus eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung und Moral dar. Aufgrund der Verfolgungen machte die katholische Kirche fortan - und das bis heute - politische Neutralität zur Strategie ihres Überlebens.

Der Protestantismus traf 1884 auf eine völlig andere politische Konstellation. Kurz vor dem Eintreffen der ersten Missionare aus Amerika und Kanada wurde die Chosòn-Dynastie durch Japan, Rußland, Frankreich und Amerika gezwungen, ihre Handelshäfen zu öffnen und den Christen Religionsfreiheit zu gewähren. Die protestantischen Missionare erkannten in der Umbruchssituation ihre Chance und verfolgten die Strategie der Missionierung durch sozialpolitisches Engagement: Sie reformierten das Gesundheits- und Bildungswesen, gründeten Hospitäler, Schulen und Universitäten, kümmerten sich um die Rechte der gesellschaftlich marginalisierten Frauen und engagierten sich nach der japanischen Okkupation 1910 in der koreanischen Widerstandsbewegung. Aufgrund dessen galt der Protestantismus in der Bevölkerung bald als Vehikel der Modernisierung und konnte sich schnell verbreiten. Dagegen folgte der Katholizismus zunächst weiter seiner Maxime der sozialen und politischen Nichteinmischung und galt in der Bevölkerung weiterhin als Fremdkörper.

Industrialisierung und Demokratiebewegung

Das Christentum erlebte seine stärkste Wachstumsphase in der Industrialisierung unter den Militärdiktaturen (1961-92): In dieser Zeit wuchs der Katholizismus von 1,5% auf etwa 5%; der Protestantismus von 4% auf 20%. Zugleich wuchsen innerhalb der Kirchen zwei unversöhnliche religiöse Kulturen und politische Grundhaltungen. Im Protestantismus waren dies einerseits die politisch engagierten Minjung-Gemeinden (sie wurden daher als ‘progressiv’ bezeichnet), andererseits die primär auf eigenes Wachstum bedachten und politisch passiven Gemeinden (‘konservativ’), von denen einige auf mehr als zehntausend Mitglieder anwuchsen und als ‘Mega-Kirchen’ zum Maßstab und Ideal für die anderen konservativen Gemeinden wurden. Die Progressiven begriffen Gemeinde als Lebenswelt, die Konservativen als Ausbildungszentrum für die Missionierung ganz Koreas.

Die rasante Industrialisierung des Landes, die lawinenartige Urbanisierung innerhalb weniger Jahre führte zur Entwurzelung der Mehrheit der Bevölkerung und zu einem weitgehenden Traditionsbruch. Nach der Auflösung des nach konfuzianischem Muster geordneten sozialen Geflechts der überschaubaren Dorfgemeinschaften boten die kirchlichen Gemeinden in der Anonymität der explosionsartig gewachsenen Großstädte eine neue Heimat und ein soziales Netzwerk. Hier knüpfte man Kontakte, fand man Arbeitsplätze, Wohnungen und Ehepartner.

Die Militärregierung aber verfolgte eine kompromißlose und einseitige Wachstumspolitik. Sie förderte nur die Schwer- und Elektroindustrie und importierte riesige Mengen von ausländischem Kapital. Zwar wurde so innerhalb weniger Jahre aus dem im Koreakrieg völlig verwüsteten Land, das zuvor noch Entwicklungshilfe bekommen hatte, eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Doch die Arbeiter hatten in ihren Betrieben kaum Rechte.

Bald formierten sich Protestbewegungen gegen die Militärdiktatur und deren rücksichtslose Industrialisierungspolitik, die zu einer extremen Ausbeutung der Arbeiter und Bauern sowie zu verheerenden Umweltzerstörungen führte und mit einer brutalen Unterdrückung jeder Kritik durchgesetzt wurde. Wer sich für Rechte der Arbeiter, Demokratisierung, Menschenrechte oder die Wiedervereinigung mit dem kommunistischen Nordkorea einsetzte, wurde überwacht, bedroht, verhaftet, einige auch gefoltert und hingerichtet. Ein Zentrum des Widerstands waren die protestantischen Minjung-Gemeinden in den Armen- und Arbeitervierteln. Intellektuelle und Studenten solidarisierten sich mit den Arbeitern und Armen (dem Minjung), gingen in diese Gemeinden und kämpften mit ihnen gegen die Regierung und Unternehmen für strukturelle Reformen und ein Ende der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Ungerechtigkeiten. So entstand die in Deutschland bekannte Minjung-Theologie, die eine koreanische Befreiungstheologie ist. Ihre Vertreter klagten nicht nur die Regierung an, sondern auch jene konservativen Gemeinden, denen es primär um eigenes Wachstum und nicht um gesellschaftliche Reformen ging. Denn im Sog des Wirtschaftsaufschwungs folgten die meisten presbyterianischen und methodistischen Gemeinden der populären Wachstumsideologie. Dies war nicht nur die von der Regierung propagierte Maxime. Sie entsprach dem Organisationsprinzip der presbyterischen und methodistischen Kirche, denen sich die Gemeinden kaum entziehen konnten: Jede Gemeinde ist ökonomisch selbständig, muß ihre Mitglieder selbst rekrutieren und finanziert sich ausschließlich durch deren Spenden. Die Konsequenz war: Je mehr Mitglieder eine Gemeinde hatte, umso reicher war sie; vice versa.

Dies führte nicht nur zum Wettbewerb mit anderen Religionen, sondern auch untereinander. Auf dem immer enger werdenden Markt waren sie gezwungen, sich an den Bedürfnissen ihrer Kunden zu orientieren. So wurden Gottesdienste zu einer multimedialen Performance, für viele zu einem gesellschaftlichen Ereignis, dem Höhepunkt der Woche. Vor allem für ärmere Bevölkerungsschichten war dies die Chance zur Partizipation am gesellschaftlichen Leben. Die Missionsprogramme dieser Gemeinden waren für viele Koreaner die einzige Chance für Reisen ins Ausland. Der Wachstumslogik entsprach die Theologie: Wachstum und Reichtum einer Gemeinde galten als Zeichen der Segnung Gottes. Die Gemeinde war nicht Lebenswelt, sondern (Ausbildungs-) Zentrum für die Missionsarbeit. Gesellschaftliches Engagement war somit nur ein Instrument zur Imagepflege und der Rekrutierung neuer Mitglieder. Die neoliberale Wachstums- und Wohlstandsideologie nach dem Prinzip ‘jeder ist seines Glückes Schmied’ löste die bindende und verbindende konfuzianische Moral ab und bürdet die Verantwortung allein dem einzelnen auf. Damit reproduzierten sie das individualistische Heilsmuster, das im koreanischen Schamanismus eine lange Tradition hat.

Von den progressiven Minjung-Gemeinden unterschieden sich die konservativen Gemeinden durch ihre systematische Strukturblindheit und Strategie der politischen Nichteinmischung. Der Dekan der protestantischen Sungkyunkwan-Universität drückte dies stellvertretend für viele so aus: "Wenn jeder moralisch gut lebt, dann sind auch bald die Strukturen gerecht." Daß Strukturen moralisch gutes Handeln erschweren oder verhindern, moralisch schlechtes Verhalten erzeugen können, dies wird nicht gesehen. Durch ihre Wachstumsideologie, ihr rein individualistisches Heilsverständnis und der damit verbundenen Blindheit für strukturelle Zusammenhänge wurden diese Kirchen - so der Vorwurf der Progressiven - zu heimlichen Komplizen der Militärregierung.

Diese zwei konträren Typen von Gemeinde entstanden unter den Bedingungen der Militärdiktatur und der rasanten Industrialisierung (bzw. als Reaktion darauf) und sind bis heute die zwei Hauptströmungen des Protestantismus in Korea.

Katholische Kirche in der Zerreißprobe

In den siebziger Jahren hat sich das Image der katholischen Kirche in der Bevölkerung völlig gewandelt. Der Grund dafür waren die Demokratiebewegungen, die sich innerhalb der katholischen Kirche formierten, an der aber nur eine Minderheit der Katholiken beteiligt war. Denn die Kirchenleitung hielt weiter an der Maxime der politischen Neutralität fest, engagierte sich nicht in der Demokratiebewegung, sondern versuchte sie im Gegenteil zu bremsen und einzudämmen. Aber sie profitierte von dem Imagegewinn, zu dem sie selbst nichts beitrug. Und noch heute gilt die katholische Kirche als Anwalt der Armen und Entrechteten und als jene gesellschaftliche Kraft, der die Durchsetzung der Demokratie gegen die Diktatur zu verdanken ist.

Entscheidend war das Jahr 1974, als der regimekritische Bischof von Wònju, Chi Hak-sun, inhaftiert wurde, und die Kirchenleitung sehr spät und zurückhaltend reagierte. Eine kleine Gruppe von sozialpolitisch engagierten Priestern formierte sich zur Catholic Priests’ Association for Justice (CPAJ), die bald zum Zentrum der Demokratiebewegung werden sollte. Die CPAJ war ein Katalysator für die anderen Oppositionsbewegungen: Young Catholic Workers (YCW), Korean Catholic Farmers Movement (KCFM), National League for Democratic Youth and Students (NLDYS) sowie das Korean Catholic Lay Apostolate Council (KCLAC).

Viele Arbeiter und Bauern, Intellektuelle und Studenten wurden von diesen sozialpolitischen Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche angezogen und konvertierten zum Katholizismus. Erstmals wurde die katholische Kirche politisch aktiv und darüber hinaus zur Avantgarde des Widerstands der ganzen Bevölkerung. Die Protestbewegungen fanden in den Gemeinden materielle und räumliche Ressourcen. Kardinal Kim Sou-hwan ließ zu, daß in ‘seiner’ Myongdong-Kathedrale in Seoul, dem Zentrum der katholischen Kirche Koreas, Gottesdienste für die Opfer des Regimes gefeiert und politische Stellungnahmen verlesen wurden, daß Myongdong zum Ausgangspunkt von Demonstrationen und zum Symbol des politischen Widerstands gegen die Militärregierung wurde.

Doch die meisten Bischöfe und (zumeist älteren) Priester kritisierten die Bewegungen gerade wegen ihres politischen Engagements. Unterstützt vom Vatikan versuchten sie (letztlich vergebens), die CPAJ aufzulösen und die Protestbewegungen unter ihre Kontrolle zu bringen. Denn sie fürchteten, daß durch die Demokratiebewegungen kommunistische Gruppierungen angezogen würden und selbst wenn dies nicht tatsächlich der Fall wäre, doch in der Bevölkerung dieses Mißverständnis entstehen würde. Außerdem würden immer mehr Gottesdienste von der gefürchteten Geheimpolizei KCIA beobachtet, die Gläubigen dadurch gefährdet und eingeschüchtert. Die Konservativen machten der CPAJ den Vorwurf, durch die Politisierung der Gottesdienste die ‘wirklichen’ Gläubigen aus der Kirche zu treiben und nur jene anzuziehen, die in der katholischen Kirche lediglich eine Plattform für ihre politischen Interessen sahen oder aus der Kirche eine politische Partei machen wollten. Die Kirche aber dürfe nicht politisch instrumentalisiert und die Einheit der Kirche nicht bedroht werden.

Die CPAJ hingegen warf der Kirchenleitung und den Konservativen vor, auf Ungerechtigkeiten der Regierung meistens gar nicht oder zu spät und nur beschwichtigend zu reagieren. Das sozialpolitische Engagement der Kirche als Opposition gegen die Regierung sei notwendig, ansonsten mache sie sich zum Komplizen der Regierung.

Beide Lager sprachen sich für gesellschaftliches Engagement aus, aber mit unterschiedlichen Maximen und Strategien: Die Konservativen verstanden darunter nicht politische Opposition, sondern forderten eine moralische Erneuerung der Gesellschaft, die Beseitigung der Korruption und der sozialen Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung. Den Progressiven dagegen ging es um die Bekämpfung der Ursachen, somit um strukturelle Reformen, wozu politische Einmischung zwingend notwendig sei. So befand sich die Kirche Mitte der siebziger Jahre in einer Zerreißprobe, die aber erst nach dem Ende der Militärdiktatur eskalieren sollte.

Konservative Kehrtwende

Obwohl die Demokratiebewegungen innerhalb der Kirchen nur von einer Minderheit getragen wurde – etwa 30% Sympathisanten und 5% Aktivisten – bestimmten sie die Stimmung innerhalb der Kirche und ihr äußeres Erscheinungsbild. Nach dem Ende der Militärdiktatur aber vollzog sich sowohl in der katholischen Kirche, als auch in den protestantischen Denominationen eine konservative Kehre. Als das große Ziel, die Abschaffung der Militärregierung und demokratische Wahlen, erreicht war, verlor die Minjung-Bewegung an Attraktivität und Bedeutung. In der katholischen Kirche forderten die konservativen Kräfte das Ende des politischen Engagements, eine Phase der religiösen Besinnung und die Reinigung der Kirche von jenen, die sie nur instrumentalisiert und zweckentfremdet hätten.

Viele von denen, die sich in der Demokratiebewegung engagiert hatten und die Notwendigkeit von weiteren sozialen und politischen Reformen sahen, emigrierten - nach zum Teil heftigen Auseinandersetzungen mit den Konservativen- aus der katholischen Kirche. Sie waren von der Kirchenleitung enttäuscht und gründeten außerhalb der Kirche Institutionen zur Fortsetzung ihrer gesellschaftspolitischen Arbeit. So überließen sie die Kirche den Konservativen.

Die Bevölkerung nimmt davon bis heute wenig wahr. Trotz der konservativen Kehre hat die katholische Kirche weiter ein positives Image in der Bevölkerung. Von diesem Image einer politischen Kirche zehrt sie, fügt ihm aber nichts mehr hinzu. Myongdong ist heute nur noch ein Mythos. Bis Mitte der achtziger Jahre war Politik für die Kirchenleitung hauptsächlich ein nützliches, aber ungeliebtes Instrument für ihr Wachstum und positives Image. Heute verfolgt die Kirche primär die Strategie der Verteidigung ihrer sozialen Position.

Dagegen hat der Protestantismus sein positives Image eingebüßt. Eine Umfrage von Gallup Korea hat jüngst gezeigt, daß die protestantischen Kirchen unter allen Religionsgemeinschaften Südkoreas inzwischen das geringste Ansehen haben. Die Ursache liegt im Verhältnis zur kulturellen Tradition und zu den anderen Religionen: Während die katholische Kirche ihren Gläubigen heute die Teilnahme an traditionellen Ritualen wie dem Ahnenkult gestattet und die Kooperation mit den anderen Religionen sucht, also eine Politik der religiösen Inklusion und kulturellen Integration verfolgt, setzen sich die meisten protestantischen Gemeindeführer bewußt von der kulturellen Tradition ab. Sie verbieten ihren Gläubigen die Teilnahme am Ahnenkult, den Genuß von Alkohol (ein Feierabendritual vieler Koreaner) und attackieren massiv alle anderen Religionen: Immer wieder hört man von Schändungen buddhistischer oder schamanistischer Kultstätten durch Gruppen aus konservativen protestantischen Gemeinden. Für den Großteil der Bevölkerung, die immer noch stark an konfuzianischen Werten und ihren traditionellen Religionen orientiert ist, benehmen sich die Protestanten wie respektlose Flegel.

Die "IMF-Krise" – Eine Projektion

Nach dem Ende der Militärdiktatur war die südkoreanische Wirtschaft zunächst weiter kräftig gewachsen. 1995 noch betrug das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts 8,7%. Damit rangierte Südkorea weltweit auf dem elften Platz. Als im November 1997 das Währungssystem Südkoreas zusammenbrach, stellte der Internationale Währungsfond in seiner bisher größten Hilfsaktion einen Kredit von 35 Milliarden Dollar zur Verfügung, die westlichen Industrienationen und Japan weitere 20 Milliarden Dollar, verbunden allerdings mit restriktiven finanz- und wirtschaftspolitischen Auflagen: Dies waren vor allem die weitere Liberalisierung der Finanz- und Handelsmärkte und die Verpflichtung zu einer Hochzinspolitik.

Das Land stürzte in eine tiefe Krise. Im ersten Halbjahr 1998 verloren täglich etwa 10.000 Menschen ihren Arbeitsplatz. Nach Auskunft des National Statistical Office (NSO) erreichte die Arbeitslosenquote im Dezember 1998 mit 7,9% einen Rekordstand. Die durchschnittliche Arbeitslosenrate 1998 betrug 6,8% während sie 1997 noch bei 2,6% lag. Und sie wird noch weiter ansteigen. Viele Arbeiter und Angestellte stürzen von heute auf morgen in Armut. Das Elend ist unvorstellbar. Familien zerbrechen, die Zahl der Selbstmorde steigt enorm an, viele Familien hungern und die bis dato unbekannte Überlebenskriminalität nimmt in beängstigendem Ausmaß zu. Obdachlose und Bettler gehören mittlerweile zum Stadtbild Seouls.

Obwohl die Krise hausgemacht war, sprach bald jeder im Land von der "IMF-Krise", als wäre die Wirtschaftskrise eine Folge der drastischen Bedingungen des IMF und nicht der institutionalisierten Korruption. Diese Projektion nach außen verzögerte eine sachliche und selbstkritische Analyse. Sie produzierte eine kollektive Opfermentalität und erzeugte das teils patriotische, teils nationalistische Gefühl von Solidarität und Eintracht. Diese Solidarität wurde in der am 12. Januar 1998 initiierten "Goldkollekte" manifest: Um einen Teil der Schulden des Staats gegenüber dem Ausland zu begleichen, riefen mehr als 105 Organisationen, darunter vor allem religiöse Bewegungen, die Bevölkerung auf, ihren privaten Goldschmuck zu spenden. Im Taumel von Verzweiflung und Verbundenheit beteiligte sich nahezu die ganze Bevölkerung an dieser Aktion, so daß innerhalb von nur einem Monat über 160 Tonnen des Edelmetalls zusammenkamen. Dies löste zwar nicht das finanzielle Problem, sorgte aber für das Gefühl der Zusammengehörigkeit und verstärkte die Projektion.

Symptombekämpfung der Kirchen

Zu Beginn der neunziger Jahre stagnierte das Wachstum der Kirchen. Jetzt, in der Wirtschaftskrise, erleben sie wieder einen enormen Zulauf. Dies hat zwei Gründe: Weil die Familien in ihrer Funktion als soziales Netz überfordert sind und weil in der Zeit der Industrialisierung versäumt wurde, ein ausreichendes staatliches Versicherungssystem einzurichten, finden die meisten Menschen nur in den Kirchen praktische Hilfe.

Deren Initiativen und Programme lindern zwar die akute Not der Menschen und sind so im wörtlichen Sinn ‚notwendig‘. Neue Organisationen und Bewegungen werden gegründet, andere aus der Demokratiebewegung finden ein neues Betätigungsfeld. Die Catholic Farmers Movement beispielsweise unterstützt jene, die nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes aufs Land ziehen wollen, vor allem ehemalige Bauern und deren Kinder, die zur Zeit der Industrialisierung in die Ballungszentren gezogen waren. Viele Organisationen haben Nothilfefonds gegründet, bieten Rechtsberatungen für Arbeitslose an und richten Unterkunftsmöglichkeiten für Obdachlose ein. Christliche Krankenhäuser und Ärzte behandeln Arbeitslose kostenlos.

Auch betonen vor allem die christlichen Kirchen, daß die Rede von der "IMF-Krise" eine Schimäre und die Wirtschaftskrise selbstverschuldet ist. Doch in den Formen ihrer Analyse und in ihren praktischen Hilfsprogrammen liegt Tragik, denn sowohl die protestantischen Gemeinden, als auch die katholische Kirche folgen ihren alten Maximen:

Die protestantischen Mega-Kirchen nutzen ihre Hilfsprogramme als Instrumente zur Missionierung und Imagepflege. Aufgrund ihrer Finanzkraft sind sie in der Lage, zahlreiche Projekte auf die Beine zu stellen, die sie zugleich öffentlichkeitswirksam präsentieren, um für sich selbst zu werben. Es regiert das neoliberale Marktprinzip. Die Kirchen haben so zwar stets ein waches Auge auf gesellschaftliche Entwicklungen, erkennen schnell Bedürfnisse und reagieren auf diese umgehend mit bemerkenswerter Einsatzbereitschaft, Flexibilität und Kreativität. Doch effizienzsteigernde Kooperationen, etwa in Form von Netzwerken zwischen den Gemeinden, gibt es kaum; jede ist auch jetzt noch eine Welt für sich und will es bleiben. Durch die Krise hat der Konkurrenzkampf um Mitglieder und Prestige einen neuen Schub erfahren. Trotz gemeinsamer Erklärungen der Religionsführer untergräbt dies die noch jungen und zarten Keime von interreligiöser Kooperation und Ökumene.

In ihren Predigten und Stellungnahmen sprechen die Kirchenführer von einer moralischen Schuld jedes einzelnen und fordern dazu auf, die Wirtschaftskrise als Gelegenheit zu sehen, persönliche Schuld zu bereuen. Fast täglich werden neue Fälle von Korruption bekannt, doch trotzdem wird Korruption nicht als strukturelles oder systemisches Problem begriffen oder dargestellt. Die ökonomische und soziale Krise wird allein auf moralisches Fehlverhalten zurückgeführt. Doch dies ist aus der Perspektive der Kirche durchaus rational und funktional: Moral in den Begriffen von Sünde und Vergebung ist für die Kirche das zentrale Instrument zur Steuerung, Kontrolle und Bindung der Gläubigen. Weil der Verweis auf ungerechte Strukturen dem moralischen Argument die Wirkung nehmen könnten oder als Alibi für moralisches Fehlverhalten mißbraucht werden könnte, weil die Kirche in den siebziger Jahren von der Demokratiebewegung instrumentalisiert wurde und dies nicht wieder geschehen soll, engagiert sie sich bei der Bekämpfung von individueller Not, nicht aber im Bereich der Politik.

Wieder sind es kleine Gruppen in den Kirchen, die eine strukturelle Analyse von Ursachen und Folgen der Wirtschaftskrise fordern. So ist eine Minjung-Bewegung der "zweiten Generation" entstanden. Der Lay Apostolate Council und Mitglieder der CPAJ kritisieren öffentlich, daß die Arbeiter und einfachen Leute die Hauptlasten der Krise tragen, die eigentlichen Opfer sind und die soziale Kluft zwischen Arm und Reich durch die Krise immer größer wird. Sie fordern daher wieder eine politische Kirche. Doch im Unterschied zur Zeit der Militärdiktatur haben sie in ihrer Kirche kaum Einfluß. So setzen sie ihre Hoffnung auf ihren ehemaligen Mitstreiter, den jetzigen Präsidenten Kim Dae-jung.

Hoffnungsträger Kim Dae-jung: alte und neue Fronten

Kim Dae-jung war in den achtziger Jahren die Leitfigur und Ikone der katholischen Demokratiebewegung. Mit seiner Wahl zum Präsidenten im Dezember 1997, just zu Beginn der Wirtschaftskrise, wurde er zum Hoffnungsträger einer weiteren Demokratisierung und der Bewältigung der Wirtschaftskrise mit anderen Mitteln als die Militärs zu Beginn der sechziger Jahre. Damit ist eine in der Geschichte Koreas einzigartige, teils fatale, teils groteske Konstellation entstanden.

Die traditionelle Strategie der katholischen Kirche Koreas, politisch neutral zu sein, nicht aufzufallen und dadurch nicht in Konflikt mit der Regierung zu geraten, funktioniert nicht mehr. Nicht zuletzt, weil die katholische Kirche in der Bevölkerung das höchste Ansehen genießt und als nicht korrupt gilt, wünscht sich Kim Dae-jung von ihr nicht nur soziale, sondern auch politische Partizipation, etwa bei der Reform von staatlichen Einrichtungen oder dem Aufbau eines Sozialversicherungssystems. Doch die konservative Kirchenleitung und die meisten Gemeinden konzentrieren sich auf sozialkaritative Nothilfeprogramme. Ein solches Bündnis mit der Macht, auch (oder gerade) wenn sie heute ein demokratisches und rechtsstaatliches Gewand trägt, ist ihnen suspekt, eine in ihrer koreanischen Geschichte ungeübte Disziplin, der sie sich deshalb scheu und mißtrauisch verweigert. Zu tief steckt für die Kirchenleitung noch das ‘Trauma’ einer politischen Kirche. Doch obwohl es nicht die Intention oder Strategie der christlichen Kirchen ist, spricht einiges dafür, daß ihre Projekte zu festen Institutionen, damit zu fundamentalen Stützen der Gesellschaft mit Vorbildfunktion für staatliche Einrichtungen werden. So würde sich wiederholen, was sich zu Beginn des Jahrhunderts bei der Reform des Gesundheits- und Bildungswesens durch die protestantischen Kirchen zugetragen hatte. Die Kirchen wären - ungewollt und trotz ihres Konservativismus - Motor der Modernisierung.

Kim Dae-jung weiß um den Konservativismus in der katholischen Kirche aus eigener Erfahrung nur zu gut. Enge Kontakte zur Kirche bestehen daher primär zu seinen alten Mitstreitern in den Demokratiebewegungen. Einige von ihnen, wie Pastor Ham Se-ung von der CPAJ, gelten als seine Berater und Vertrauten. Die Rolle der politischen Partizipation übernehmen also bewußt wieder die progressiven Bewegungen. Doch auch die sogenannten Progressiven sind keineswegs homogen und einträchtig, sondern in zwei große Lager gespalten, von denen eines seine Politik zu torpedieren droht.

Der Großteil der Progressiven unterstützt in ungebrochener Loyalität die Politik ihres ehemaligen Mitstreiters und Idols Kim Dae-jung. Dieser gibt - wie die katholische Kirchenleitung - nicht dem IMF die Schuld an der Krise, sondern dem Chaebòl-System und der institutionalisierten Korruption. Er ist weder der Ansicht, daß die Krise nur mit Hilfe der Chaebòl gelöst werden kann, noch daß das Chaebòl-System durch den Staat zerschlagen werden müsse. Ziel seiner Politik ist es aber, gemäß den Zielsetzungen des IMF, das Chaebòl-System durch die Kräfte des Marktes zu reformieren und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wiederherzustellen. Auch dazu fordert er unbedingt die weitere Öffnung des Landes gegenüber dem Westen.

Dagegen gibt es eine ultranationale Strömung, vor allem auch in Kreisen der sogenannten progressiven Christen. Die Ursache der Wirtschaftskrise sehen sie nicht im Chaebòl-System, sondern in den globalen, transnationalen Finanzmärkten mit ihrer neoliberalen Ideologie, die ihrer Meinung nach die kulturelle Identität und Selbstbestimmung Koreas gefährden. Diese Form des Patriotismus hat durch die Projektion ‘IMF-Krise’ neue Nahrung bekommen, vor allem durch die Beteiligung der Amerikaner und des alten Feindes Japan am Hilfsfond. Weiter gilt heute in Kreisen der progressiv-liberalen Katholiken auch der Vatikan als Gegner: Seitdem dessen repressive Einflußnahme auf die Demokratiebewegung bekannt wurde, wird die enge Bindung der koreanischen Kirche an den Vatikan primär als Fremdherrschaft und zu überwindendes Oktroy empfunden. Um sich dem Einfluß dieser neuen alten Gegner zu entziehen, diskutiert man in diesen Kreisen ernsthaft die politische, wirtschaftliche und kulturelle Abschottung des Landes.

So sind die politischen Gegner des Präsidenten heute nicht mehr eindeutig über das Begriffspaar progressiv - konservativ zu identifizieren. Die Gegner des Präsidenten finden sich teilweise in seinen ehemals eigenen Reihen, während die konservative Kirchenleitung durch die Wirkung ihrer Arbeit bereits heute eine Stütze für seine Politik des Wiederaufbaus unter den Bedingungen der Öffnung ist. Es ist zu erwarten, daß der derzeitige Erfolg seiner Politik - man rechnet bereits dieses Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von 4% - sowohl die Regierung Kim Dae-jung, als auch den Konservativismus in der Kirche stärken wird.

Dr. Carsten Wippermann ist Mitarbeiter an der Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle der Universität Bamberg (SOFOS) und arbeitet derzeit an einem empirischen Forschungsprojekt zur Situation des Christentums in Südkorea.

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Stand: 06. September 1999, © Asienhaus Essen / Asia House Essen
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